Das Schreckgespenst der Rechtspopulist*innen im Rücken und die Angst, der AfD Wasser auf deren mit Ressentiments beladene Mühlen zu kippen, blockiert eine unbedingt noch weiter zu führende Diskussion. Herrscht somit wieder Ruhe im Land, ist die Ordnung wieder hergestellt oder gärt es doch und werden wichtige Entscheidungen nur vertagt?
Abschottung statt Integration – kein liberales Einwanderungsgesetz
Um diese Frage beantworten zu können, müssen mehrere Ebenen – Bund, Länder wie NRW und die kommunale Ebene beachtet werden. Beginnen wir mit der Debatte im Bund: In der Bevölkerung hält sich hartnäckig das Gerücht, die Kanzlerin verfolge eine liberale und offene Einwanderungspolitik für Geflüchtete. Dabei ist schon lange das Gegenteil der Fall. Die Politik des Bundes orientierte sich in den letzten Monaten primär an einer Strategie aus vermehrter Abschreckung und der Verhinderung von Fluchtmöglichkeiten nach Europa.
Statt Öffnung und Integrationsbemühungen gibt es eine Politik der Schließung. Auch die oft diskutierte Option eines liberalen Einwanderungsgesetzes nach kanadischem Vorbild scheiterte im Bundestag am Widerstand der Union. Vor allem die CSU vermehrte ihre Ansätze, selbst erfolgreich integrierte Flüchtlinge mit zum Teil massivem polizeilichem Einsatz und gegen den Widerstand vieler Bürger*innen um jeden Preis auch in unsichere Gebiete abzuschieben. Auf europäischer Ebene scheiterte die Kanzlerin bisher mit ihren Versuchen einer Neugestaltung der europäischen Flüchtlingspolitik.
Keine Partei steuert neue Ideen zur Flüchtlingspolitik bei
Das System von Dublin ist in der Realität weitestgehend außer Kraft gesetzt. Von einer gemeinsamen Ordnung ist die EU weit entfernt. Von Seiten der SPD, der GRÜNEN und der LINKEN gibt es dazu nur wenige neue Ideen oder gar Initiativen. Einen humanitären Gegenentwurf des linken politischen Lagers zur Politik der Kanzlerin existiert bisher nicht – zu groß ist auch dort die Angst, eigene Anhänger*innen zu verlieren. So bestimmt die Union, getrieben von der Angst vor der AfD, das politische Spielfeld.
Auf Landesebene wurde in den vergangenen Wahlkämpfen viel über die Chancen und Grenzen der AfD, deutlich weniger über eine Zwischenbilanz der Flüchtlingspolitik gestritten. Vor allem die Vorkommnisse der Silvesternacht 2015 in Köln haben den Diskurs in Richtung Sicherheitsfragen und Integrationshemmnisse nicht nur bei aktuell Geflüchteten verschoben. So überrascht auch der frisch diskutierte Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP nicht mit der Ankündigung, mehr als die bereits 2.000 geplanten Stellen für die Polizei bereitzustellen.
Sicherheit geht vor und Geflüchtete müssen zahlen
Angesichts der Klagen der Sicherheitsorgane ist das sehr nachvollziehbar. Dass die kommende Regierung unter Armin Laschet, der immer als liberale Stimme der Union in Fragen der Flüchtlingspolitik galt, die aktuelle Integrationsherausforderung nicht versteht, zeigt sich jedoch in der Bildungspolitik: Studiengebühren für Studierende aus Nicht-EU-Ländern einzuführen ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch und kann als Sonderabgabe für Geflüchtete bezeichnet werden.
Die regionale Wirtschaft in NRW zeigt sich in Zeiten des Facharbeiter*innenmangels offen für die Einstellung von Geflüchteten, drängt aber darauf, dass diese die für den Arbeitsmarkt nötigen Qualifikationen bekommen. Mit den Studiengebühren werden Geflüchtete und andere Studierende aus Nicht-EU-Ländern gezielt diskriminiert und aus universitären Kontexten ferngehalten. Die Studierendenschaft spaltet sich so in Privilegierte und Nicht-Privilegierte.
Buhlen um Studierende: NRW nimmt sich aus dem Rennen
Ausländische Studierende werden – wenn möglich – auf andere Bundesländer ausweichen und die Hochschullandschaft in NRW legt sich im nationalen wie internationalen Wettbewerb um die besten Studierenden selbst Steine in den Weg. Dies zeigt, dass die neue Landesregierung die Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt zwar verbal begrüßt, in der Realität aber erschweren will. Hier wiederholt die neue Regierung die alten Fehler deutscher Migrationspolitik: Statt Öffnung und Integration gibt es Sonderhürden und Benachteiligungen.
Der gesellschaftliche Sprengstoff ist mitnichten entschärft
Und wie sieht es vor Ort aus? Erste Untersuchungen – zum Beispiel aus Dortmund – zeichnen ein äußerst zwiespältiges Bild: In der Bevölkerung stehen sich Befürworter*innen einer liberalen Flüchtlingspolitik und deren Kritiker*innen sowie Gegner*innen konträr gegenüber. Die Stimmung ist polarisiert und sie spaltet noch immer gestandene Nachbarschaften, Familien und Freundesbeziehungen. Der gesellschaftliche Sprengstoff ist mitnichten entschärft – die Diskussion höchstens vertagt.
Alarmierend sind die zunehmenden Stimmen der Überforderung vieler in der Geflüchtetenarbeit Engagierter. Sie stoßen an psychische und physische Grenzen, verzweifeln oft am bürokratischen Gestrüpp ihrer Arbeit. Diese Säule des Gelingens droht in sich zusammenzufallen, ohne dass es dazu aus dem politischen Kontext heraus Hilfestellungen oder Initiativen gäbe.
Schulen leisten Großartiges, können aber nicht alles auffangen
Und die Geflüchteten selbst? Viele befinden sich noch immer in der längsten Warteschleife ihres Lebens. Auch nach Monaten des Nichtstuns wissen sie nicht, ob sie bleiben dürfen oder nicht, ob ihre Familien nachkommen und sie selbst arbeiten dürfen. Hier blüht ein Treibsamen aus Frust, Langeweile, Perspektivlosigkeit und – wenn dem nicht entgegengewirkt wird – auch der politischen Radikalisierung.
In der Bilanz heißt das: Auch, wenn zahlreiche Turnhallen und Notunterkünfte geräumt sind und vor allem viele Schulen Großartiges leisten, findet vielerorts trotzdem nur eine halbherzige Integrationspolitik statt. Es fehlt jeder Mut, über die nötige, weitere Ausgestaltung offen zu streiten. Business as usual wird der Lage nicht gerecht. Die Verdrängung lokaler Realitäten und große rhetorische Gesten der Beruhigung ersetzen keine Politik. Und vor Ort spüren die Betroffenen bereits jetzt die Konsequenzen.
Prof. Dr. Dierk Borstel, Professor für praxisorientierte Politikwissenschaften der Fachhochschule Dortmund und Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung